Rafael D. Trope, 2024
Der kühle Wind des Winters, der schon viel zu lange dauert, schafft es nicht mehr die wärmenden Sonnenstrahlen aus der Terrassennische zu verscheuchen, auf dessen Lärchendielen ich es mir gemütlich gemacht habe. Entspannt lehne ich an der Natursteinwand und atme genussvoll den Hauch einer Ahnung von Frühling ein. Es ist jetzt fast zweieinhalb Jahre her, dass ich an jenem denkwürdigen Spätnachmittag auf einem Segelboot inmitten der Weiten eines glasklar glitzernden Meeres der südlichen Sporaden eine Entscheidung traf, dessen Tragweite mir damals noch gar nicht bewusst war.
An jenem Tag also nippte ich gedankenverloren an meiner Dose Mythos, hörte den kabbeligen Wellen beim Platschen an die Bootswand zu und seufzte dabei zum gefühlt eintausendsten Mal der tiefstehenden Sonne entgegen, deren Untergehen eine herrliche Segelwoche beenden sollte. Das Einzige, woran ich dabei allerdings dachte, war der Wunsch sie hätte erst begonnen. Vor mir wartete ein Hafen mit einer Anlegestelle, von der es kein weiteres Auslaufen geben sollte und neben mir saßen meine besten Freunde, die so wie ich in ihrer eigenen schwermütigen Stille schmorten.
„Ich hab's noch nie auf einer Flugzeugtoilette gemacht!“
Ich spukte fast mein Bier in die Dose zurück, aus der ich den Rest Mythos gerade in mich hineinschüttete, einerseits um meine trübsinnigen Gedanken zu ersäufen, andererseits aber im festen Vorsatz mir schnellstmöglich ein Neues aus dem Kühlschrank unter Deck zu holen. Solange hier noch Bier am Bord war, dachte ich, war der Tag noch nicht verloren.
Eric, der diese völlig deplatzierte Feststellung von sich gegeben hatte, grinste mich schräg von der Seite an, wackelte fordernd mit seiner leeren Dose und ich machte mich gerne auf den Weg, Nachschub zu holen.
„Hast morgen eine Chance, das zu korrigieren,“ antwortete ich ihm belustigt, als Marc mir ins Wort viel.
„Ist verboten!“
„Genauso, wie besoffen am Steuer eines Segelboots zu stehen und du tust es trotzdem,“ rotzte ich zurück und beeilte mich in den Niedergang zu kommen, in dem mich Marcs ebenfalls leere Dose, die er sich anschickte nach mir zu werfen, nicht treffen konnte. Okay, also drei Bier. Unser Trinktempo hatte sich in diesen Tagen auf magische Weise synchronisiert, dachte ich.
Marc war unser Skipper in dieser wunderbaren Segelwoche gewesen und hatte seine Sache so gut gemacht, dass ich mir sicher war wir alle würden noch von diesen ereignisreichen Erinnerungen zehren, wenn wir schon lange wieder in unserem Berufsalltag zu ersticken drohten. Aber so weit wollte ich noch gar nicht denken! Lieber jede Restsekunde dieses süßen Nichtstuns auskosten, als zu früh in die unvermeidliche Urlaubende Depression verfallen, ging es mir durch den Kopf, als ich so mit drei weitern Dosen Mythos wieder den Niedergang hinaufbalancierte und gerade noch mitbekam, wie Eric schnippisch feixte: „Ist schon eigenartig, Marc, dass du zuerst daran denkst es ist verboten, anstelle dir vorzustellen, wie es wäre.“
„Unbequem,“ brachte es Marc trocken auf den Punkt.
„Eng,“ legte ich nach und bemerkte, wie mich Eric dabei schmutzig von der Seite her angrinste.
„Was meinst du? Die Toilette oder die Steward….“
„Boah, eh, kein Wort mehr Eric,“ platze es aus Marc heraus, „oder du wirst kielgeholt!“
Aber ich hörte schon nicht mehr wirklich zu. Erics Humor war bestenfalls deftig zu nennen und auch wenn ich seine Schlagfertigkeit manchmal bewunderte, so übertrieb er es all zu oft.
So konzentrierte ich mich wieder auf das irisierende Glitzern, das die Sonne auf die salzig-dunstige Grenzfläche aus Luft und Wasser zauberte, so als wollte sie die letzten Seemeilen unserer Reise mit funkelnden Diamanten säumen. Aber so sehr sie sich auch abmühte mir mit ihrem Strahlen den wehmütigen Abschied zu versüßen, so konnte sie nicht unterbinden, dass meine Gedanken abschweiften. Anstelle im Hier und Jetzt zu genießen, kreisten sie bereits um die E-Mails und Excel Tabellen, die mich morgen schon an meinem Schreibtisch erwarten würden und nicht zum ersten Mal an diesem Tag verspürte ich einen quälenden Widerwillen, der mir säuerlich aufstieß. Den Urlaubs-Blues, den kennt wohl jeder und auch für mich war er nichts Neues, ungewöhnlich jedoch war, dass sich diesmal eine Sehnsucht in die Schwermütigkeit mischte, mit der ich nichts anzufangen wusste, die aber mehr und mehr drängte, so als wollte sie mir etwas Wichtiges zeigen. Und so wogten Schwermut und Sehnsucht in mir, wie die Wellen des Meeres rings um das Boot. Sie schienen sich seltsam aufzuschaukeln, anzustacheln und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.
„Können wir nicht einfach noch ein paar Tage dranhängen?“ Ich musste dies wohl all zu heftig von mir gegeben haben, denn erschrocken schauten mich Marc und Eric an und gaben erstmal keine Antwort, aber dennoch konnte ich auch in Ihren Gesichtern lesen, dass sie genau wussten, was ich meinte.
Marcs Blick schweifte prüfend über die windgebauschte Genua und er holte sie mit einem kräftigen Zug an der Winsch etwas dichter und es kam mir dabei so vor, als ob er Zeit gewinnen wollte, bevor er mir antwortete: „Schön wär‘s, aber wir haben das Boot nur mehr heute und morgen wartet schon die nächste Crew, die es gechartert hat.“
„Die Glücklichen haben‘s noch vor sich.“ brummte Eric missmutig und wie zum Trotz fügte er hinzu: „Nächstes Mal nehmen wir 10 Tage, abgemacht?“
„Ich will aber jetzt!“ entfuhr es mir trotzig.
Eric zuckte mit den Achseln, sah Marc an, zog einen Schmollmund und erwiderte: „Der Kleine kriegt seinen Lutscher nicht!“
Ich stieß ein gequältes Lachen hervor und blickte wieder übers Wasser. Er hatte ja Recht, dachte ich. Warum das Unvermeidliche bekämpfen. Erst mal wieder an- und reinkommen in die Routine, die sich immer noch eingestellt hatte, wenn ich wieder an meiner Arbeit war. Sie würde mich schon zuverlässig bis zum nächsten Urlaub treiben, auch wenn dieser sich noch Monate entfernt hinter vielen Arbeitstagen wegduckte.
Da habe ich wenigsten was, auf das ich mich freuen kann, versuchte ich mich zu beruhigen.
Und die Zeit bis dahin freudlos leben? Raunte die Sehnsucht und gnadenlos weckte sie damit wieder die Schwermut in mir. Verärgert nahm ich einen großen Schluck Dosenbier. Diese beiden Tiere zu bändigen, wird heute noch meine Auftrag sein, dachte ich, aber ob dazu Mythos ausreichen wird?
„Heute schieß ich mich aus dem Leben!“ Rülpste ich hervor und Eric und Marc prosteten mir zustimmend zu mit. „Amen!“ riefen sie, wie aus einem Mund.
Ich nahm einen neuen Schluck, aber das Bier schmeckte fahl und inhaltsleer kreisten meine Gedanken weiter auf dem Karussell von Schwermut und Sehnsucht.
Das musste aufhören, dachte ich.
Dann tue etwas, kam es zurück.
Irritiert schüttelte ich den Kopf, um wieder klar zu werden. War das Mythos doch so stark, dass ich jetzt schon Selbstgespräche in meinem Kopf führte?
Es ist schon alles da, du musst nur hinsehen!
Sprich nicht in Rätseln! Was ist schon da, wo soll ich hinsehen? Schalt ich mich selbst und kam mir dabei reichlich albern vor.
Es ist alles da wonach du dich sehnst! Wisperte es.
Ich sehne mich nach ein paar weiteren traumvollen Tagen auf diesem Boot hier. Was soll das?
Nein, du weißt, dass es das nicht ist.
Hallo? Boot, Meer, Sonne, Bier und die Seele baumeln lassen, das IST was ich will, gab ich ungehalten zurück.
Nein! Was du wirklich willst, wonach du dich ehrlich sehnst, ist nicht auf diesem Bott und du findest es übrigens auch nicht in der Dose Bier, die du so krampfhaft festhältst, wie die Erinnerung an die letzten Tage.
Was, bitteschön, ist so verkehrt daran sich zu wünschen, dieser Törn möge noch nicht zu Ende sein?
Weil du dir vergangenes wünscht und du dabei fürchtest, was in der Zukunft liegt. Vor der hast du Angst und deine Sehnsucht ist nur deshalb so stark, weil du dich deiner Angst nicht stellen willst, ihr sogar ausweichst. Sie lässt dich spüren, was dir fehlt und das was dir fehlt ist, was du eigentlich willst.
Okay, und was wäre das? Was fehlt mir? Was will ich, du Schlaumeier?
Dass du wieder liebst, was du tust und tust, was du liebst!
„Pah, echt jetzt?“ Irritiert blickten mich Marc und Eric an und mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich es laut ausgerufen hatte.
„Al, alles gut bei dir?“ zeigte sich Eric ehrlich besorgt.
„Ne, Bier is alle. Eric, du bist dran!“ versuchte ich die Situation zu überspielen und schnippte dabei betont lässig mit dem Finger gegen das Dosenblech, das hohl schepperte.
„Hörst du’s? Dose leer, wie Birne hohl.“
„Dann is ja Platz für Alkohol!“ tönte es unisono von meinen Freunden zurück und Eric machte sich schon lachend auf unter Deck zu kommen.
Eine kühle Brise zog leicht über die sonnenaufgeheizten Decksplanken, spielte sich kokett mit den Reffleinen im Hauptsegel und wuselte erregt durch das Windfähnchen am Heck, ehe sie sich anschickte, im gischtigen Fahrwasser lebhaft auszukräuseln. Ich stierte glasig hinterher und zog im Geiste meinen eigenen Bahnen.
Ich soll wieder lieben, was ich tue, und tun, was ich liebe, griff ich den Ball wieder auf. Was für eine Scheiß Plattitüde ist das denn! Wetterte ich weiter, nur um mir schließlich einzugestehen, dass selbst in so einer abgedroschenen Binsenweisheit nicht wenig Wahres verborgen liegt. Trotzdem wollte ich auf keinen Fall nachgeben und schob trotzig nach.
Ich mag, was ich tue!
Zum Beispiel? Meldete sich mein verborgener Gesprächspartner.
Ich mag meinen Job.
Nein, du magst deinen Job nicht mehr! Du machst ihn nur noch und dein Ethos gebietet dir ihn mit höchstmöglichem Einsatz und scheinbar größter Motivation zu erledigen. Genau das tust du, aber das liebst du schon lange nicht mehr. Du arbeitest ihn stumpf ab und die Perfektion mit der du dich und andere dabei anlügst, dass du ihn gerne machst, täuscht dich nur darüber hinweg, wie sehr du etwas ganz Anderes viel lieber tätest. Das schleppst du schon einen ganze Weile unbemerkt mit dir herum. Du bezeichnest deinen Job als verantwortungsvoll und bedeutsam und trägst ihn, wie eine Fahne vor dir her, hältst sie dabei tapfer in den Wind der Eitelkeiten Anderer, die dich gerne in dem Glauben lassen, dass es nur auf dich ankommt, man deine Loyalität so nötig hat und du an vorderster Front der Firma stehst, wie ein ehernes Denkmal, ein leuchtendes Vorbild für alle, die du damit anleiten sollst. Aber wofür genau stehst du da? Was genau gewinnst du persönlich dabei, wenn dein ehrenvoller Einsatz nur den Gewinn des Unternehmens maximiert, im Gegensatz dazu, was du aufgegeben hast? Erkennst du nicht mehr, was dein seelenloses Streben in dir Schritt für Schritt aufgefressen hat?
Mit einem harschen Knacken zerdrückte ich die leere Dose in meiner Hand und war selbst erschrocken, wie mein innerer Disput die Grundfesten erschütterte, die ich für so gefestigt hielt.
“Schon wieder leer?“ Kam es anklagend von Eric. „Brems dich ein, sonst fällst du noch vor dem Anlegemanöver aus.“
„Kaum möglich,“ entgegnete ich, „soweit ich mitgezählt hab is eh nur mehr eine Runde im Kühler.“ Innerlich aber spürte ich, wie etwas zu bröckeln begann, sich etwas frei zu brechen versuchte, dass schon lange verschüttet lag und eine blasse Erinnerung schickte ihre Vorboten aus meine umnebelten Gehirnzellen zum Feuern zu bringen, wie der Leuchtturm am Kap der Hafenbucht von Skiathos, der Warnung und Leitstrahl zugleich ist.
Bei herrlichem Halbwindkurs glitt das Segelboot wie von selbst, leicht kränkend dem vorgelagerten Inselarchipel des Golfs von Skiathos entgegen. Am Horizont zog sich bereits der helle Saum des griechischen Städtchens mit seinem tiefblau changierenden Hafenbecken der Wasserlinie entlang und die dunklen Schatten der engen Straßen und Gassen marmorierten feinadrig das Weiß der Häuserfronten, die den Hang hinaufkrochen und in das satte Grün eines Weinberges hinein sprenkelten.
Ich konnte mich kaum losreißen von der perfekten Harmonie des Augenblickes, obschon in mir alles zu toben begann.
Meine innere Stimme hatte in der Tat recht, wenn sie meinte, etwas hätte sich in mir festgefressen. Doch woran? Was nagte es an, dass dabei unmerklich zu verschwinden begann? Was genau war dieses Undefinierbare, Ungreifbare und Unbegreifbare, dass mich aufzuzehren begonnen hatte und seit wann tat es das?
Seit wann fragst du dich? Meldete sich mein innerer Ankläger wieder.
Die Antwort liegt in der Frage selbst, verborgen und doch so offensichtlich!
Und plötzlich war da eine Stille. Ich hielt den Atem an. Aus der Stille schälte sich ein leises, kaum wahrnehmbares „Tick-Tack, Tick-Tack, Tick-Tack“ und mit einem Mal war sie da. Sie trat wie eine düstere Gestalt aus dem Nebel hervor und baute sich vor mir schweigend auf.
Ich hatte meine Antwort.
„Zeit,“ murmelte ich lautlos vor mich hin. Ein Wort nur, aber wie ein Donnerschlag schlug es eine alte, brüchige Saite in mir an, die lange verstummt nun rostig zu schwingen und zu vibrieren begann.
Ja, Zeit! Am Grunde meines Selbst, stand ich nun vor einem Spiegel und sah in mein eigenes Gesicht.
Es ist eine Lüge, was man über die Zeit sagt, flüsterte mein Spiegel-Ich. Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie selbst ist es viel mehr, die sie oftmals schlägt.
Wir starrten uns eine Weile an.
Wir hatten so viel von ihr und doch? Es sind die Jahre, die uns beibringen, wovon die Tage nichts ahnen. Die Jahre sind der Zeit schärfstes Schwert und sie schlägt uns damit die Wunden, die wir selber nicht spüren können, weil wir nicht selbst es sind, die sie ertragen müssen. Vielmehr schlägt sie unbarmherzig darauf ein, was unsere Träume sind, unsere Wünsche, die wir einmal hatten. Sie trägt sie dort zu Grabe, wo von uns verlassene Ruheorte sind, von denen wir schon lange fort gewandert sind, rastlos und wir sind blind für die Visionen, die wir dort zurückgelassen haben und wir finden sie so schwer wieder.
So stand ich da vor meinem Spiegelbild und schaute in ein Gesicht, in das die Jahre Falten vergeudeter Zeit geschnitten, dass es hart gemacht hatte, wie ein ehernes Schild an dem meine Träume abgetropft waren.
Wie oft haben wir uns sagen hören, dafür ist später noch Zeit, zuerst die Arbeit, dann das Spiel, Geld zur Seite legen für den Wohlstand später, Kariere machen für den Lebenslauf, die Visitenkarte eines erfolgreichen Managers, der etwas aus sich gemacht hat, den man bewundern muss für seine Leistungen, mit denen er sich dann seine Pension verdient hat, und wer dankt es uns, wenn wir uns dann ausgebrannt haben?
Erfolgreich zu sein ist nicht verkehrt, erfolgreich zu sein und dabei unglücklich jedoch ein Fehler, den die Zeit nicht verzeiht. Da schlägt sie dann zu. Der Traum von einem Ruhestand, in dem man meint erst all das genießen zu können, was man sich im Jetzt verwehrt, diese Vision von einem Liegestuhl am Pool mit Pina-Colada in der Hand, sie verkommt nur allzu oft zu einer Realität in der aus Liegestuhl ein klappriger Rollator und aus Pina-Colada der Abführtee wird.
Wo sind sie hin die Träume? Wo ist sie dann, die Zeit, auf die wir so sehnsüchtig gewartet haben, die gute Zeit, in der wir Platz für unsere Träume haben? Die Zeit ist Verschwendung, wenn wir es ihr gestatten, dass sie uns von unseren Träumen trennt. Sie gaukelt uns dann vor sie wäre in einer besseren Zukunft, die wir noch gar nicht kennen können und sie läßt uns wünschen, sehnen und wir stellen sie uns vor als eine bessere Gegenwart und dabei zeigt sie uns ihre unerbittliche Schärfe. Weil wir unser Leben träumen schiebt die Zeit uns weiter bis wir nicht mehr in der Lage sind unseren Traum zu leben.
Wovon hast du geträumt?
Das scharfe Schlagen der Genua Schot riss mich aus meinen Gedanken und das Boot lehnte sich ächzend gegen eine plötzlich einfallende Böe. Ich hatte nicht bemerkt, wie Marc seine Bierdose hastig in die Halterung geklemmt hatte und jetzt das Ruder fester hielt. Eric saß aufrecht da und suchte mit verkniffenen Blick über die rauer gewordenen See. Der Wind hatte aufgefrischt und der Indikator am Mast Top tanzte nervös und fahrig.
Ja, wovon träumte ich, oder hatte ich schon aufgehört zu träumen? War ich meinen Routinen erlegen? Hatten sie alles niedergeplättet, meine Wünsche abgestumpft zu einer wagen Erinnerung an früheres, als diese mich noch in all ihrer Ehrlichkeit die Höhen und Tiefen haben spüren lassen und was es bedeutet zu lieben was ich tat?
„20 Knoten wahrer Wind!“ schnitt Marcs Stimme in mein Bewusstsein. „hier zwischen den Inseln fängt sich die Thermik, wie in einer Düse. Wird ein wenig ruppig werden.“
„Sollen wir reffen?“ fragte ich vorsichtig und erntete einen strafenden Blick von ihm. „Sollen wir Mayday funken? Ihr wisst was zu tun ist! Eric, übernimm das Groß, Traveller nach Luv. Al, knall das Vor dicht. Lasst uns das Freibord waschen!“
Eine neue Böe rauschte in die Wanten. Der Bug des Bootes pflügte durch den Wellenkamm und senkte sich dahinter, Gischt spritzend in sein Tal. Ich war schon längst an der Winsch und kurbelte kräftig bis sich das Vorsegel wie ein Brett flach spannte und dabei in seinen Verankerungen knarzte. Eric und ich trimmten die Segel in routinierter Eile, ohne hektisch zu werden. Wir waren ein segelerfahrenes Team, aufeinander eingespielt und wir konnten uns darauf verlassen, dass jeder unserer Handgriffe saß.
Der nächste Windstoß rüttelte an der Takelage, kränkte das Boot in eine ungemütliche Schräglage und etwas rutschte schleifend in den Backskisten herum.
„Gewichtstrimm!“ herrschte unser Skipper uns an, packte das Ruder noch fester und verspreizte sich breitbeinig im Steuerstand.
„Jawohl, Käpt’n Ahab!“ Grinste Eric, schwang sich an meine Seite und klopfte mir auf die Schulter: „Er will uns nochmal zeigen, wo der Bartl den Most holt.“
„Lass ihm die Freud,“ schrie ich gegen den schrallenden Wind an und lehnte mein ganzes Gewicht gegen die Sicherheitsleinen, als die Yacht ihr Steuerbord träge aus dem Wasser hob, widerwillig nur dem Rudergänger gehorchte und sich luvgierend durch die wogende See schob.
Und dann war es plötzlich da! Unvermittelt sprang es mich an und was in meinen Eingeweiden zu kribbeln begann, schaukelte sich auf zu dem, was ich schon zu lange verschüttet glaubte. Es überkam mich, wie ein Tsunami, der alles niederbricht und wegspült, wie ein prasselnder Gewitterregen nach einem schwül-durchhitzten Spätsommertag, wie der Sprung von dieser Klippe, damals, als mir kein Felsen zu hoch gewesen war, um mich nicht von ihm hinabzustürzen, das Rauschen des Fallens in den Ohren, des Angespannt seins jedes Muskels in meinem Körper gewahr, den Aufprall entgegenfiebernd, so wie das Abtauchen in die Tiefe, damals, als mir kein Wasser zu tief gewesen war, um mich nicht nach unten zu drängen, dem blass-schimmernden Meeresboden entgegen, der kaum zu erkennen gewesen war, und da, ja, da unten dann die kleine glitzernd perlmuttrige Kammmuschel packend mich treiben lassend, unbewegt, dann wieder der Oberfläche entgegen schwebend, damals, ja damals, so wie eben jetzt wieder, das aufwühlende Gefühl ganz aufzugehen im Hier, das Gefühl, das keine Grenzen kennt, kein Falsch oder Richtig, kein Gut oder Schlecht, das einfach ist was es ist, nackt, ehrlich, kreatürlich und ich schrie es hinaus, brüllte es von Bord, den Wellen entgegen, der spritzenden Gischt mitten ins nasse Gesicht, dem Wind gegen seine rauen Kanten, so brach es aus mir heraus:
„Leben!“ Ich lachte ihm hinterher meinem Schrei und lachte und lachte.
„Und Segeln!“ Schrie Eric.
„Bis zum Rande der Welt und wieder zurück!“ Schrie Marc und wir schrieen und lachten und lachten und schrieen und das Boot ächzte sich durch Wellen und Wind und spukte uns durch die Meerenge, gepeitscht mehr von unserem Lachen und Geschrei als von dem Toben des Meeres. So trieb es uns vorwärts in das Ausklingen der letzten Böen einer Thermik, die aus dem Nirgendwo kam und im Nichts verschwand aber dessen Unbekanntes und Grobes uns nicht hatte biegen können.
Das wahre Leben findet in den Grenzbereichen statt, dort fordert und fördert es, schmiedet unsere Resilienz, lässt uns die Träume erfahren, die in unseren Komfortzonen nur Wünsche bleiben und dort reichert es uns an mit einer Zeit, die nie verschwendet ist.
Ich schaute in die Gesichter meiner besten Freunde und ich las darin ihre pure Freude und Glück und auch eine begierige Wachsamkeit.
Ich schaute in das Gesicht meines Spiegel-Ichs und ich sah darin ein feines Lächeln und eine Spannung, die die Falten darin plötzlich nicht mehr zeitverbogen erscheinen ließ.
Ich sehe du hast dich entschieden, sagte es ruhig.
Ja, sagte ich, das habe ich.
Der kühle Wind eines Winters, der schon viel zu lange dauert, schafft es nicht mehr die wärmenden Sonnenstrahlen aus der Terrassennische zu verscheuchen, auf dessen Lärchendielen ich es mir gemütlich gemacht habe. Entspannt lehne ich an der Natursteinwand und atme genussvoll den Hauch einer Ahnung von Frühling ein. Ein Notizbuch, in weiches Leder geschlagen, liegt neben mir und meine Finger streichen sanft über den Einband, der die vollgeschriebenen Seiten schützt, in denen ich soeben noch tief versunken geblättert habe. Noch einmal schweifen meine Gedanken zurück an jenen Tag, an dem wir in den Hafen von Skiathos eingelaufen waren, erschöpft vom Kampf gegen die Gewalten der griechischen See und erleichtert darüber, dass uns Skylla und Charybdis nicht mit Haut und Haaren verschlungen hatten. Mit Geschickt, von unserem windgegerbten Skipper angeleitet, hatten wir das Segelboot an der Hafenmole der neuerrichteten Marina professionell angelegt, was uns ein verstecktes, kaum wahrnehmbares aber doch erkennbar bewunderndes Kopfnicken des alten Marineros eingebracht und Marcs Brust vor Stolz hatte anschwellen lassen. Gut verspringt, an zwei straff gespannten Muring sicher vertäut, machten wir uns zufrieden mit unserem gelungenen Anlegemanöver über die letzte Runde Bier her und weil ich ganz unten, zwischen Lenzpumpe und Kielschotten ein vergessenes 6-er Pack Mythos gefunden hatte, waren es sogar noch drei Runden geworden.
„Auf eine geile Segelwoche in den Sporaden!“ toastete Marc uns zu.
„Ich hab schon wieder Bock aufs nächste Mal,“ stimmte Eric ein. „Und wenn ich das verträumte Grinsen von Al richtig interpretiere, dann ist er wohl auch wieder dabei.“ Anstatt ihm zu antworten hob ich meine Dose Mythos und stieß mit ihnen an.
Erschöpft vom Widerstreit in mir, der sich so überraschend für mich auf der letzten stürmischen Überfahrt abgespielt hatte, hob ich versöhnlich auch innerlich mein Glas und prostete meinem Spiegel-Ich zu.
Du wirst deine Entscheidung nicht bereuen, das verspreche ich dir, sprach es zu mir.
Ich habe gehörigen Respekt davor, antwortete ich.
Zweifel ist normal, das liegt in der Natur von Veränderung, aber wenn du etwas in all den Jahren gelernt hast, in denen die einzige Konstante Veränderung gewesen war, so dass du immer die Kraft und die Ausdauer an den Tag gelegt hast sie zu meistern.
Dann war die Zeit wohl doch nicht ganz vergeudet? Fragte ich.
Nicht, wenn du sie als wichtige Erfahrung einsetzen wirst bei dem, was du dir nun vorgenommen hast.
„Marc, hast du das Logbuch schon eingetragen?“ Unterbrach Eric unser Schweigen.
„Ne, mach ich morgen im Flieger. Schickt ihr mir Eure Fotos?“
„Jep!“ Eric lehnte sich zurück und sah einer Möwe zu, wie sie übriggebliebenes Brot gierig vom Steg pickte.
Eigenartig, dachte ich, dass es ausgerechnet heute passiert ist.
Wenn du ehrlich bist, dann musst du dir eingestehen, dass du es schon länger gemerkt hast, dass dich dein Job zerfrisst. Du wolltest es dir nur nicht eingestehen, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Du hast es zugelassen, dass er alles zugeschüttet hat in all den Jahren und es wurde Zeit, dich daran zu erinnern, was es war, dass dich damals so gefesselt hat.
„Es wäre mal was anderes, eine kleine Reportage über unseren Törn zu machen.“ Meinte Eric, ganz in der Beobachtung der Möwe versunken. „So viel, wie wir dieses Mal erlebt haben, schon cool, wenn wir das nachlesen könnten.“
„Meinst du das ernst?“ Marc sah Eric ungläubig von der Seite an, als müsste er sich versichern, dass Eric nicht wieder einen seiner Scherze mit ihm trieb.
„Na klar!“ meinte der, „ich vergesse ja eh immer die Hälfte wieder. Es müsste sich nur jemand von uns hinsetzen und ein paar Zeilen unter die Fotos…“
„Schreiben!“ unterbrach ich ihn heftig.
Ja, Schreiben! Das war es, was du früher doch fast täglich gemacht hast, lächelte mich mein Ich im Spiegel an und rührte damit an meiner Seele.
Dafür hast du gebrannt. Denk an die vielen Geschichten, die du erdacht hast, die du dann in dein Notizbuch geschrieben hast, deinen ewigen Begleiter und was stand da gleich auf der ersten Seite von jedem neuen Notizbuch, dass du angefangen hast? Kannst du dich noch daran erinnern?
Mein Sein Alles! Antwortete ich und im Geiste tauchten sie auf die dicht beschriebenen Seiten, in Stunden erarbeitet, ohne dass es mir damals wie Arbeit vorgekommen wäre, wenn ich so akribisch, fast wie im Fieberwahn einen Satz dem anderen habe folgen lassen, kaum die Feder absetzte, kaum innehalten musste, wenn meine Gedanken schneller waren als ich schreiben konnte und die Zeit still zu stehen schien, ich in meiner Welt gewesen war, ganz bei mir, bei meinem Sein, mein Sein, und ich alles hatte, was ich wollte und ich es so liebte, was ich tat, ganz im Mein Sein, Alles Sein.
„Bingo, Schreiben!“ Wiederholte Eric „und schon haben wir einen Freiwilligen!“ Setzte er schnippisch hinterher.
„Ich mach das, ja.“ Und ich hob mein Bier.
Ich mach das, rief ich meinem Spiegel-Ich zu, weil ich mich wieder spüren will, mich wieder ganz versenken will, wieder von dieser Klippe springen will, wieder in diese Tiefen tauchen will, weil ich einfach wieder lieben will, was ich tue und tun will, was ich liebe!
Wer sagte da noch mal was von Scheiß Plattitüde? Zwinkerte mir mein Ich im Spiegel zu.
Auf den warmen Lärchendielen in meiner Terrassennische blättere ich langsam durch die Seiten und muss dabei still in mich hineingrinsen. Dicht sind sie beschrieben, ein Satz dem Andern folgend, flüssig gesetzt und ich bin zufrieden. Ja, ich habe mich entschieden, damals auf diesem Boot inmitten des Glitzerns des Meeres der Sporaden und dieses Glitzern und Funkeln, es winkt mir über die Jahre fröhlich zu und überbrückt die Zeit, die ich seitdem genutzt habe, mich vorzubereiten auf einen Wunsch, einen Traum Realität werden zu lassen. Ihn wiederzufinden an seinem vergessen geglaubten Ruheort, ihn auszugrabende, um die Vision von damals im Jetzt zu verwirklichen.
Ich will Schriftsteller werden!
Werden? Schwang es in mir nach und fast schon am Verklingen hörte ich mein Spiegel-Ich.
Das bist du doch schon. Du wurdest es in dem Moment als du, an einem Spätsommertag, am Weg in die Bucht von Skiathos die Entscheidung getroffen hast dein Leben zu ändern, auf diesem windgeschüttelten und in dir tobenden Weg auf einem Boot am Rande der Welt.
Ende und ein Anfang!
Rafael D. Trope, 2024