Die Frau am Ufer

Rafael D. Trope, 2023

Die Sonne geht auf. Ihre Wärme mischt sich dunstig in die Kälte einer Nacht, die schon verloren hat. Nebelschwaden kreisen noch und der See liegt bleischwer ruhig in der stillen Senke.

Der Morgen kratzt die letzten Schatten aus seinen schilfumrahmten Buchten und das leise Plätschern seiner Wellen läßt runde Kieselsteine rascheln. Wie die Blätter an der Weide, die mit den Spitzen ihrer Äste, schwer noch von der Starre dieser Nacht, Kreise in das Wasser tupft.

Einsam steht sie da. Sie schaut auf diesen See hinaus, der in seiner Fläche ruht, doch was darunter sich bewegt, das sieht sie nicht.

Ruhig steht sie da. Die kleinen Wellen umspülen sanft ihr nackten Füße, als wollten sie nur spielen.

Sie spürt sie aber nicht!

Ein Windstoß rupft an einer Strähne ihrer wild zerzausten Haare, die vor kurzem ihr so sanft und seidig noch über ihre wohlgeformten Schultern fielen. Sie ist ein Schatten von jemand, der einst lachte und sich freute, doch die Energie mit der sie diese Tage füllte ist verflogen, ausgedünnt, wie Nebelschwaden, die sich im Licht des fahlen Morgens in unsichtbare Ecken drücken.

Der See liegt ruhig, doch er wartet auch. Denn der Schritt den sie gleich machen wird, den kennt er schon. Er ist alt, hat viel gesehen und in seinen Tiefen schützt er treu, Schicksale aus traurigen Zeiten, über die er heute seine Oberfläche zieht. Er richtet nicht und als sie dann die ersten Schritte tut, verspricht er ihr so sanft zu sein, wie sein tiefes Wissen es erlaubt.

Erneut schickt sich ein Windstoß an über seine spiegelglatte Haut zu gleiten und als die sich kräuselnd dreht, hebt er sich ans Ufer. Ihr ersticktes Seufzen nimmt er mit und trägt es fort zur Weide hin, an dessen Stamm er sanft es niederlegt. Dort wo in altersrissig grauer Rinde eingeritzt ein Name steht und auch ein Kreuz, nichts weiter, denn wo ein Ende keinen Anfang hat, ja, da ist dann sonst nur Leere.

Eine Leere, wie am Ufer jetzt. Es ist ruhig und es ist still und der See?

Er atmet nicht, er ist nur da. Er deckt ihn zu den Kampf, der unter seiner Fläche tobt. Der Luft beraubt, erstirbt er schnell.

Der See ist alt, er hat schon viel gesehen. Er richtet nicht, doch manchmal nur ganz kurz, da ist er gnädig! 

An seinem Ufer stand sie und jetzt, da sie in seinen Tiefen ist, schenkt er ihr, was sie vorhin nicht erkennen wollte. Sein Wasser wischt sie ab die Tränen, spült sie ab die Trauer, ihren Schmerz. Er reinigt ihre Seele, die von Qualen zugeschüttet war und gibt ihr ein Geschenk, einen Gedanken nur geformt in einen Satz. Und als sie dann mit brachialer Wucht durch seine Oberfläche bricht, gierig einsaugt, was er ihr dort unten nicht mehr geben kann, da schreit sie ihn heraus, den Satz, mit ihrem ersten Atemzug: 

„Ich will für dich leben, weil du es nicht mehr kannst!“

Ihr Schrei, der ist nicht laut, kraftlos fast und doch von einer Macht, die auch die Weide dann erreicht, in dessen Rinde eingeritzt der Name ihres Kindes steht, für das sie nun leben wird.

 

Rafael D. Trope, 2023


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