Mia

Rafael D. Trope, 2024

„Sie sind also meine Aufpasserin!“ Gileahn hielt es nicht für notwendig von seinen Unterlagen aufzublicken. Dieses Gespräch würde nicht lange genug dauern, um seine Aufmerksamkeit vom Obduktionsbericht abwenden zu müssen. Die Türe würde sich gleich wieder öffnen und derjenigen, die man ihm vor die Nase setzen wollte, fluchtartig sein Büro verlassen. Er duldete niemanden in seiner Nähe. Schon gar nicht jemanden, der sich einbildete ihn kontrollieren zu wollen.

Er ließ das eisige Schweigen ein paar Sekunden länger wirken, bevor er ätzte: „Na dann passen Sie auf, dass sie die Türe von außen schließen bevor sie den Mund aufmachen. Ausheulen können sie sich übrigens zwei Türen weiter.“

Das sollte reichen, dachte Gileahn und zählte bereits die Sekunden, bis das Klicken der Türverriegelung ihm verraten würde, dass ihm sein Büro wieder alleine gehörte.

Aber das Klicken blieb aus. Auch nach weiteren 30 Sekunden. Und seine voreilige Befriedigung verwandelte sich in einen Anflug von Missmut.

Eine von der hartnäckigen Sorte, dachte er. Sieh an!

Seine Neugier war trotzdem zu träge, um den Blick vom Bericht zu lösen. Allerdings blieb er bei einem Satz hängen, den er das zweite Mal zu lesen begann, was ihn einigermaßen in Erstaunen versetzte. Seine Aufmerksamkeit war offensichtlich nicht mehr ungeteilt.

Die Sekunden tropften in die Stille, die von Wänden eines nüchternen Büros eingeengt wurde, nur um an einer Gestalt zu kondensieren, die sie aufzusaugen schien. Gileahn spürte förmlich wie sie ihre Schwere verlor und sein bissiger Zynismus darin verebbte, wie eine Welle, die auf sandigen Grund lief.

Du weißt nicht was Zeit ist, meine Liebe, dachte Gileahn. Und auch nicht wie viel ich davon habe. Also bitte, tue uns den Gefallen und geh einfach. Ich kann dieses Spiel unendlich lang fortsetzen. Das ist kein Wettstreit! Du hattest bereits verloren als du dieses Büro betreten hast. Ich will dir zugestehen, dass du länger ausgehalten hast als die Meisten. Aber bitte gehöre nicht zu den Wenigen, deren Namen aus meinem Gedächtnis verschwunden und in meiner Zeit verloren gegangen sind.

„Ich heiße Mia.“

Ihre Worte zerrissen die Stille seiner drei mal drei Meter Einsamkeit und schoben in Gileahn etwas zur Seite, was nie wieder seinen Platz finden sollte.

„Und Sie glauben, dass mich das interessiert?“

Seine Antwort kam schneller und fahriger als er wollte. Sie entstammte purer Gewohnheit. Beinahe wünschte er die Klappe gehalten zu haben, ein eigenartiger Gedanke. Dieses Aufflackern von Reue verwunderte ihn mehr als die Tatsache, dass ihm tatsächlich eine Frau auf die Nerven gehen wollte. Etwas Unbeholfenes mischte sich unter seine Gedanken und zündete ein zorniges Grummeln.

„Ja.“

Was? Ein einfaches, ja, und dann wieder Stille? Sie war Gileahns Gefährte und jetzt wendete sie sich gegen ihn? Nichts hätte ihn mehr treffen können.

Seine Sinne hefteten sich an einen Satz, den er nun das dritte Mal lesen musste ohne seinen Inhalt zu erfassen. Sie klammerten sich förmlich an ihn, um dem Zittern seiner Hände Einhalt zu gebieten.

Was geht hier vor, schoss es ihm durch den Kopf. 

Mit einer harschen Bewegung schob er den Bericht zur Seite und erhob sich langsam von seinem Bürosessel. Diese bewusste Bewegung vermittelte ihm scheinbare Kontrolle.

Seine Präsenz füllte den Raum, in dem sonst wenig Menschliches anwesend sein konnte. Kein Platz für Erinnerungen an kahlen Wänden, aus denen selbst die Farbe geflüchtet war. Sie hatte sich genauso davon gestohlen wie alles andere, das ansatzweise einem Anker dienen hätte können in den Jahren eines Mannes, der sich selbst am liebsten aus der Vergangenheit löschen wollte.

Kein Fenster, durch dessen schief stehende Jalousie Lamellen sich ein übermütiger Sonnenstrahl stiehlt, um mit den Staubmücken lustig zu tanzen. Sie blieben im sterilen Licht der Deckenpaneele unsichtbar als hätte sie jemand hinter einen Vorhang gescheucht, um nicht den Anschein von Lebendigkeit zu erwecken. Es blieb eine Kälte in diesem Raum, der einer Grabkammer mehr glich als einem Büro. Selbst das Vergessen fand hier keinen Halt in den wenigen Ritzen.

Eine einfache Lampe, auf einem einfachen Schreibtisch, hinter dem ein einfacher Sessel das Gewicht eines schwierigen Menschen trug, dessen Gegenwart keinen Platz für Andere ließ. Auch nicht für ein einfaches Ja, weil in Gileahn alles nach Nein schrie.

Er atmete tief ein, verschränkte die Hände hinter dem Rücken, versteckte sein Zittern vor Blicken, denen seine Augen noch nicht begegnet waren. Er hielt sie fest geschlossen. Eine Vorahnung, dass ihm nicht gefallen wird, was sie gleich sehen werden.

Gileahns Spiegelbild zeigte heute Morgen, kurz bevor er sein Apartment verließ, einen Mann, der seinen ausgeblichenen Mantel über weißem Hemd und dunkelgrauer Hose wie eine Rüstung trägt. Ein Panzer, so fest geschlossen, dass nichts nach außen aber auch nichts nach innen dringen kann. Er trägt ihn stolz durch die Straßen der Stadt, aber seine Nacktheit darunter sieht niemand, oder doch?

Das ist mein Schreibtisch, denkt er bebend.

Das ist mein Revier!

Meine Welt!

Meine Einsamkeit!

Die Wut funkelte hinter Gileahns geschlossenen Lidern. Wie eine Peitsche wollte er sie durch das Büro und auf den Rücken der Störenden niedersausen lassen.

Ich habe die Worte schon lange für dich gewählt. Ich habe keinerlei Scheu dir Abscheu, Beleidigung, Drohung, Arroganz und Ignoranz zu zeigen. Dein Rang ist mir egal!

Deine Stellung ist mir egal!

Dein Geschlecht ist mir egal!

Die Konsequenzen egal, egal, EGAL!

DU, bist mir egal!

Nur eins nicht: Verschwinde!

Halte dich fern von meiner Welt, dann zerstöre ich auch nicht deine.

Als er die Augen schließlich öffnete, blieben die Worte versteckt. Sie spiegelten sich nur in seinen Augen, in denen sie stumpf geworden wie durch ein Fenster verschreckt nach draußen blickten.

Mehr ließ Mia nicht zu. 

„Ich bin hier. Schön, dass es ihnen auffällt.“

Ihre feenhafte Erscheinung verbarg etwas, das in seiner tobenden Welt keinen Platz haben konnte und doch schien es, als wollte es sich dort gemütlich einrichten. Sie hatte sein Reich selbstbewusst betreten wie ein Zimmer in einem Hotel und sagte, das nehm ich, danke. 

Gileahn dachte verblüfft: Was hast du gerade in mir verrückt?

Seine Finger krallten sich zornig in die Seiten des Obduktionsberichts und weil er sich nicht mehr zu helfen wusste, schleuderte er ihn vor Mias Füße. Mia hob ihn langsam auf, faltete ihn zusammen und schenkte Gileahn ein kurzes Aufblitzen tief vergrabener Erinnerungen. Ihr kaum wahrnehmbares Lächeln war milde. Eine Waffe, die Gileahn fremd war, aber sie erinnerte ihn an etwas, das er schon einmal gesehen hatte. Was war es nur und warum bringt es mich so aus dem Gleichgewicht?

„Na wenn du schon da bist! Lesen, und jetzt verschwinde hier!“

Gileahn sank auf seinen Sessel zurück, der unter einem anderen Gewicht ächzte, öffnete seinen Visor und drehte sich hastig weg.

Mit Erleichterung hörte er eine Türe zufallen. Er hatte seine Einsamkeit wieder, aber sie fühlte sich plötzlich weniger einsam an.

 

Rafael D. Trope, 2024


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