Rafael D. Trope, Die Dimensionen Saga, Buch 1: Schatten der Dämmerung (2023)
Gileahn van Kahn
„Officer, was haben wir hier?“
Gileahn steht in der kleinen Seitengasse, als wäre er schon immer da gewesen. Die rot-weißen Absperrbänder knattern im Wind, der durch die Straßen von Marloh zieht und sich hier in der Lücke zwischen dem alten Backsteinbau und dem Fresno-Building an der gleichnamigen Fresno-Street bricht, Fetzen von altem, zerknülltem Papier vor sich hertreibend. Seine Gestalt reißt Schatten aus dem regennassen Asphalt, der sich löchrig bis in die letzten Winkel des verdreckten Durchstichs drängt, bis dieser an der Reegan Street, keine hundert Meter weiter sein kümmerliches Ende findet. Ein blechernes Schild, das einstmals farbenprächtig Werbung für irgendetwas gemacht hat, rostet schief hängend in den Nachmittag und eine Ecke des Relikts hebt sich immer wieder einmal an, wenn ein winterkalter Windstoß es ruckartig von der Backsteinhauswand löst, um es dann mit einem hallenden „Klenk“ zurückzuschicken in seinen metallenen Montagerahmen.
Zwei vor Schmutz starrende Abfallcontainer kleben an der gegenüberliegenden Gebäudeseite, überquellend von allerlei Unrat, der aus ihren weit aufgerissenen Deckelklappen stinkt. Die Kreise ziehenden Papierfetzen suchen eben Schutz unter dem Einen, ein schmierig glänzender Plastiksack, aus dem anderen herausgezogen, weht an Stelle einsam weiter durch die trostlose Gosse. Und in all dem Dreck und all dem Müll liegt konterkarierend eine in feinsten Stoff gehüllte Gestalt am Boden.
„Eine Leiche, Sir!“ stottert der Officer vor sich hin und Gileahn nimmt einen tiefen Zug aus seiner im Mundwinkel verkeilten Panatella.
„Wirklich?“ dehnt er rauchummantelt zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hervor
„Und ich nehme an, sie ist tot, oder?“
Warum nur nervt man ihn immer mit dem Offensichtlichen, wo zweckdienlicher Kontext nötig wäre und zeigen würde, dass man weiter denken kann. So stiehlt man ihm nur seine kostbare Zeit, denkt er.
Langsam dreht er seinen Kopf zur Seite und im Nachglimmen des Zigarrenstumpfs blickt er gelangweilt auf das Namensschild des Officers neben ihm.
„Marcus Shergrave,“ murmelt er gedankenverloren. „Ich kannte ihren Ur-Großvater.“
Ehe er es unterbinden kann formen sich Bilder aus seinen Erinnerungen und tragen ihn zurück in eine Vergangenheit, die ihm wieder einmal vor Augen führt, was er alles verloren hat. Die Jahre hetzen meine Tage als ob sie meine Stunden werden wollten, denkt Gileahn. Der einsame, schmierige Plastiksack schlittert weiter über löchrigen Asphalt, ehe er prall gefüllt hochgehoben, vom Luftstoß gepeitscht auf der Reegan-Street die ersten Flocken des aufziehenden Schneesturms küsst.
Die Brillanten sind zu früh gestorben und haben mir nur ihre stumpfsinnige Nachgeburt hinterlassen, sinniert er frustriert und flippt dabei den Rest der Panatella in den anderen Mundwinkel, klemmt ihn zwischen seinen Zähnen fest und wendet sich Wichtigerem zu.
„Aber Sir! Er ist seit 60 Jahren tot?“ Vernimmt er das Gestammel von Office Shergrave, das seine Aufmerksamkeit nur mehr peripher kitzelt.
„So tot wie diese Leiche da. Ich erfahre wohl heute nichts Neues mehr von Ihnen“, brummt er vor sich hin. Shergravs fragendem „Sir?“ entgegnet er ungehalten: „Holen sie mir die Zeugenberichte, falls es welche gibt.“
Er weiß, dass es keine gibt.
In diese gottverlassene Gegend verirrt sich niemand und schon gar nicht um diese Jahreszeit. Selbst die Abfallbeseitigung hat diese Gasse schon lange aus ihren Routen gestrichen. Den überquellenden Containern zu folgern nach, kümmert sich seit Wochen keiner mehr um deren Entleerung und selbst die Ratten finden nichts, was sich lohnt hier noch ihre Kreise zu ziehen. Gileahn kennt den Grund für den Zustand dieses Viertels nur allzu gut. Beide Gebäude, welche diese Gasse einengen, stehen leer, so wie fast alle entlang der Fresno und Reegan Street. Die Abbruch Bataillons scharren schon in ihren Startlöchern.
Marloh braucht Platz! Und nachdem es an seinen Außengrenzen nicht mehr weiter wachsen kann, frisst es sich in seine alten Viertel, um dort in die Höhe zu schießen, was ihr anderorts verwehrt bleibt in die Breite zu dehnen.
Für Gileahn ist das Ergebnis überall gleich. Die Stadt Marloh atmet sich gierend nach oben, während es an seinen Fundamenten modrig stinkt.
Er greift sich müde an die Schläfen als ein altbekannter Schmerz sich durch seine Hirnwindungen wälzt und hält mit schnellen Schritten auf den leblosen Körper zu.
Die Gasse schattet sich dimmend gegen das fahle Winterlicht und verstärkt tönern jeden Laut, den seine Stiefel auf dem Boden klopfen. Aufgetaute Schneesturm Flocken klatschen dumpf in ölig schimmernde Wasserpfützen und sein Kopf tut weh. Ein abgewetzter Deckel eines Schuhkartons scharrt kraftlos auf Beton, das „Klenk“ der Werbetafel zerrt schwer an seine Nerven. Die Luft verdichtet sich sirupartig mit jedem Schritt und er schwimmt mehr als er geht.
Hier stimmt etwas nicht! Etwas kratzt lästig seine Vorahnung.
Gileahn schüttet verwirrt den Kopf und verbeißt sich fester in den Zigarrenstumpf. Selbst die orange-helle Glut scheint sich hinter weiße Tabakasche ducken zu wollen, als er so neben Mia stehen bleibt.
„Was machst du hier, Mia?“
„Meinen Job!“
„Das ist mein Job!“
„Jetzt ist er das!“
Gileahn löst seinen starren Blick von der am Boden liegenden Gestalt, die ihm bereits alles gesagt hat und heftet ihn an die Silhouette Mias, die noch einiges zu sagen hat.
„Mia, wir haben Regeln!“
„Nicht meine Regeln!“
„Aber sie gelten auch für dich!“
„Ab jetzt nicht mehr!“
Das Kratzen wird lästiger. Was übersehe ich hier? Denkt Gileahn. Die Luft lastet schwer auf seiner Brust und der Sirup wird zu Honig. Der Schmerz zieht schleifend seine Gedanken in die Länge. „Klenk, Klenk“, ein Amboss Hammer flieg durch sein Gehirn, klopft ahnungschwanger seine Schläfen weich.
„Er wollte, dass wir die Leiche hier finden!“
„Er? Warum nicht sie?“
„Zu schwer!“
„Hilfe?“
„Der Schuh!“
Mias Atem wolkt bleiern über ihre bebenden Lippen, gefriert schwallartig in der kalten Luft. Sie friert, erkennt Gileahn erstaunt. Ein Schuhkartondeckel nagt sich schabend durch Beton.
Er hat längst die Kratzer im sonst makellosen Lack der Schuhe bemerkt. An den Fersen, ein Schuh halb abgezogen, als hätte sein Träger gerade versucht ihn auszuziehen.
Mia ist ihm einen Schritt voraus und sie verhält sich eigenartig.
„Mia, was sehe ich nicht?“
„Der Körper wurde über den Asphalt geschleift“
„Darum die Kratzer, sehe ich, weiter!“
„Der Hals!“
Ein hastiger Blick genügt Gileahn, um zu erfassen, was Mia schon längst begriffen hat. Die feine, blass-rosa Linie legt sich scharf konturiert unterhalb des Kehlkopfs kreisrund um den Hals. Der Nanodraht ist so schnell, so kraftvoll, durch das Fleisch gerissen worden, dass der Tod schneller eingetreten ist als der Körper Zeit gehabt hatte zu bluten.
Eine Frau tötet anders, weiß Gileahn. Gift im Weinglas, weil sie kein Blut sehen kann, ein Schuss ins Herz für Jahre einer gestohlenen, betrogen Liebe, im Affekt entladen, was sich lange aufgestaut hat, tötet eine Frau selten mit dieser präzisen Brutalität, die sich an diesem Leichnam zeigt und doch:
„Indizien, Mia!“
„Wahrscheinlichkeiten!“
„Ein Auftragskiller!“
„Hinterlässt keine Botschaft!“
Gileahns Sinne rucken vorwärts. Sein Instinkt blafft an die Oberfläche und das Kratzen wird zu Reißen. Gehetzt fliegt sein Blick zurück zur Gestalt am Boden, Sein Fokus scharf gestellt auf jedes noch so kleine Detail, zoomt er über den kalten, toten Körper.
Schuhe: Lack, schwarz, Kratzer an den Fersen, hatten wir schon, weiter,
Anzug: Seide, Anthrazit, Zweireiher, zugeknöpft,
Gilet: passend, farblich abgestimmt, nicht von der Stange,
Hemd: weiß, klassisch, Krawatte fehlt, kein Banker. Club Besitzer? Nein kein Gilet, zu unbequem, Anwalt!
Ringe: zwei, einer Siegelring, anderer am Daumen, Single? Vermutlich!
Mantel: bordeauxrot, Innenfutter Paisley, reich? Und wie! Angeber? Definitiv! Geld spielt keine Rolle! Haare lang, Pferdeschwanz, leider modern, Schläfen meliert, Dandy! Moment….
Das hat er übersehen!
Das Paisley Muster dieses sündhaft teuren Kashmir Mantels springt ihm verächtlich lachend ins Gesicht und langsam wendet sich Gileahn Mia zu.
„Mia, was hast du getan?“
„Ich wollte nur einmal schneller sein als du.“
Ein Tropfen Blut in der Luft, rot, rund, dunkel, klatscht in eine Lache, rot, rund, dunkel, vom nassen Schwarz des Straßenbelags kaum zu unterscheiden, aber Mia steht darin.
„Mia, warum?“
„Innentasche, Vorsicht!“
„Ich weiß!“
„Ich hab’s nicht gesehen!“
Gileahn geht in die Hocke. Das Paisley Muster starrt lachend, der Schuhkarton Deckel robbt kratzig und ein „Klenk“ greift nach der Gasse.
Langsam, nur mit seinen Fingerspitzen hebt er außenfassend, vorsichtig den feinumsäumten Taschenrand und da sieht er es auch schon. Feinst versponnen, einem Kunstwerk gleich, nahtlos eingebettet, streckt sich das Nanonetz bis ins letzte Eck der Innentasche. Kleine Perlen glänzen schüchtern, tödlich nesselnd an den feinen Fäden aufgereiht und Mia sinkt an seiner Seite lautlos auf den Straßengrund. Ihr Blick ist starr nach vorn gerichtet und sie kniet, angelehnt an Gileahns Schulter. Ein Schütteln läuft durch ihren Körper.
„Gileahn!“
„Ruhig Mia! Sie sind schon unterwegs.“
„Gileahn!“
„Ein paar Augenblicke noch, bleib bei mir Mia!“
„Gileahn, du verstehst nicht!“
Das Kratzen beißt sich fest. Das „Klenk“ erstirbt und nur sein verzerrtes Echo halt nach. Jedes Geräusch verweht unheilvoll in dieser dämmrig dunklen Gasse und Mias letzter Atemzug haucht vier Worte in die Stille.
„Er. Ist. Noch. Hier.“
Ein berstendes Scheppern peitscht wütend durch die Stille. Ein metallener Montagerahmen rostet werbeschildbefreit alleine in den düsteren Nachmittag und Gileahn fährt seinen Angriffsmodus hoch.
Du Bastard nimmst mir Mia nicht!
to be continued!