Leseprobe aus "Schatten der Dämmerung"

Rafael D. Trope, Die Dimensionen Saga, Buch 1: Schatten der Dämmerung (2022)

 

Semira

 

„Oh, Gileahn!“ Semiras Seufzen aus ihrem blutrot-lippigen Kussmund lässt ihn fast die Fassung verlieren. Hatte er sie sich so vorgestellt? Ein Traum bedingungsloser Hingabe? Ein in zwei ebenholz-samtig glänzende Hände gestütztes, wie hingemaltes Gesicht? Eine Schönheit jenseits irdischer Realität? Dieses göttliche Strahlen in mandelförmig lasziv schmachtenden Augen?

„Sag es nochmal!“  Gurt es magennerven-vibrierend eine Oktave tiefer aus ihrer Kehle und das rauchige Timbre ihrer Stimme verleiht seiner Fantasie Flügel.

Wenn sie jetzt noch ihre prallen Lippen nur ein paar Millimeter öffnete, abwartend zungenumspielt, weiß blitzende Zahnreihen entblößend, würde sie diesem Moment die Erwartung liebesdurchwühlter Nachtstunden schenken. Und weil er es sich so vorstellt und weil er es sich so herbeisehnt, erfüllt sie ihm diesen Wunsch und ein perfekter Augenblick entfaltet sich.

 „Nein, sag es nicht! Zeig es mir, zeig es mir, nicht mit deinem Mund, nicht mit deiner Stimme,“ flüstert sie vorfreudig.

 „nur mit deinen Augen! Schau mich an. Schau mich an. In will in deinen Blicken dein Begehren sehen.“ Sie rückt ein Stückchen näher und neigt den Kopf auffordernd zur Seite, reckt dominant aufmüpfig ihr makelloses Kinn. In Szene gesetzte Wollust, denkt Gileahn und er spürt, sie will mehr.

 „Na?“ zieht Semira Sekunden zu honigsüßen Schäferstunden und Gileahn verfällt dieser schweißperlig glänzenden Sinnlichkeit und er will sich fallenlassen, in Semiras Augentiefen stürzen, baden in ihren liebkosenden Blicken und so schmelzen zwei Seelen gierig hungernd ineinander und nichts bleibt zurück, nur ein verheißungsvoller Augenblick umhüllt von samtig fordernder Begehrlichkeit.

Hat er sie sich so vorgestellt? Eine Verstand raubende femme fatale? Eine dominagekreuzte Lolita? Ein enthemmtes Liebesgift?

Ja, genau so hat er sie sich vorgestellt und genau so will er sie auf die Mannschaft der Aramantine loslassen. Genausso stellt er sich nämlich die spärlichen Stunden arbeitsschwer eingeengten Freiraumes vor, in denen sonst nur langweilige Routinen Stunden hinziehen, wie teigiges Waten in Morast. Diese aufgezwungene Freizeit durchbrochen von eingeimpftem Wohlbefinden, aus dem gefaktem psychosozalem Kauderwelsch einer artifiziell gestützten Psychiater-Intelligenz entsprungen, soll eine künstlich indizierte Erholung vesprechen? Für Gileahn ist das alles ein Graus, eine Vergewaltigung seiner menschlichen Bedürfnisse.Was ist das denn schon im Gegensatz zu dem Verspechen dieser sinnlichen Vollkommenheit, die Semira aus jeder ihrer Körperzellen ausatmet?

„Semira“, seufzt Gileahn träumerisch vor sich hin und taucht ein weiters Mal ab in das brunnenschacht-tiefe Blauschwarz ihrer irisumspannten, verheißungsvoll schmachtenden Augen.

„Gileahn“, haucht es zurück und er kann sich nicht sattsehen an dieser wimpernschlag-anmutigen Wollust.

„Gileahn!“ Diese hochstehenden Wangenknochen, wohldosierte erotische Asymetrie, ein kokettierendes Stören sonst langweiliger Perfeketion.

„Gileahn!“ Und diese Stimme! Ein forderndes, forsches, rauchig gemaltes Wünschen nach mehr.

„Gileahn! Zum Teufel noch mal.“ Shamals bärtig kratziges Gesicht bricht durch Semiras Anmutigkeit und eine Faust schlägt auf den Hologramm-Simulator. In Sekundenbruchteilen versinkt ein verheißungsvoller Traum im photonenwabernden Nichts.

„Was, hey! Was machst du da?“ braust Gileahn auf und es sträubt sich noch alles in ihm diesen wunderbaren, durch Semira erotisch aufgeladenen Moment loszulassen.

„Was ICH hier mache? Was machst DU da?“ bellt ihn Shamal an und wedelt in seiner Pranke den Holo-Simulator vor Gileahns Gesicht hin und her.

„Das hier ist ein Holo-Therapeut zur Behandlung psychotischer Schübe, kein Libidostimulator!“

„Hey, ich hab ihn nur ein wenig modifiziert, das ist alles!“ Verteidigt sich Gileahn.

„Modifiziert? Zu einem Erotik-Simulator?

„Jetzt komm mal wieder runter, Shamal, reg dich ab.“

„Gileahn“, Shamals Gesicht ruckt gefährlich nahe an Gileahn heran und seine Stimme senkt sich drohend. „Die halbe Brückenmannschaft starrt hier rüber und bei dem geifernden Sabbern, dass deine Vorführung hier ausgelöst hat, brauche ich meinen Whisky nicht mehr mit Wasser zu verdünnen!“

„Du streckst den Whisky mit Wasser?“

 Gileahn weiß nicht, was ihn mehr erschüttert, dass Shamal ihn quasi der Psycho-Zuhälterei bezichtigt oder er gerade zugegeben hat, dass sein Whiskey, den er hier in der Bar ausschenkt, gepanscht ist.

„Ah, nein, ähm, natürlich nicht“, Shamal richtet sich kerzengerade auf und kratzt sich verlegen hinter seinem rechten Ohr. „Du weißt doch “, spricht er nun lauter als notwendig und Gileahn kommt es nun so vor, als ob das nicht mehr ihm alleine gilt. Die Gesichter an den Tischen, die zuvor noch auf Gillians Holo Simulation gestarrt haben, richten sich jetzt irritiert auf Shamal.

„ Ein guter Whisky“, deklamiert Shamal, „entfaltet erst sein ganzes,  herausragendes Aroma, wenn man ihm ein paar geschmackserweckende Tropfen reinstes Quellwasser hinzufügt.“ Tönt Shamal im Brustton der Überzeugung und seine Augen rollen dabei, als wollten sie aus ihren Höhlen fallen und um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen, wippt sein Oberkörper vor und zurück, so als kennte nur er das Geheimnis einem Whisky die Seele guten Geschmackes entlocken zu können. Wäre da nicht sein nervöses Räuspern, es hätte Gileahn fast überzeugen können.

„Shamal, reg dich ab. Wir wissen alle hier, dass dein Whisky gepanscht ist.“ grinst ihm Gileahn entgegen und mit diebischer Freude nimmt er zur Kenntnis, dass es Shamal das erste Mal, seit er ihn kennt, die Sprache verschlägt. Ein zittriges Beben seiner Unterkiefermuskulatur, das einen beginnenden Wutausbruch ankündigt, rettet Gileahn den Tag und noch bevor er Shamal die Gelegenheit dazu gibt, eine seiner 

 legendären Schimpftiraden losrollen zu lassen, winkt er ihn gespielt verschwörerisch zu sich heran.

„Psst, hey, Shamal“, raunt Gileahn hinter vorgehaltener Hand und gerade noch laut genug, dass es jeder in der Bar mitbekommt, sagt er „und weil wir das alle wissen, bringen wir mittlerweile unseren eigenen Whisky mit!“  Dabei lupft er verstohlen das Rever seiner Freizeituniform an und zieht mit seiner linken Hand den kleinen Flachmann halb aus der Innentasche.

„Aber keinem weitersagen, okay?“

 Im vielstimmigen Gelächter der Bargäste, geht beinahe das halb erstickte Grunzen unter, dass sich Schamals schreckgeweitetem Mund entringt und das Unterkieferzittern mutiert in ein hochfrequentes Aufeinanderschlagen seiner Beißwerkzeuge.

Gileahn macht sich jetzt doch ein wenig Sorgen es übertrieben zu haben, sieht er doch, wie als Folge von Shamals krampfendem Zähneklappern sich bereits einzelne Haare seines sorgsam gestutzten Vollbarts lösen und vor ihm auf die Tischplatte rieseln.

„Oho, er regnet seine Männlichkeit ab“, schallt es zwischen den Gästen hervor.

„Bald braucht er eine Runderneuerung.“  Und das Lachen wird lauter!

„Hey Gileahn, wenn Shamal hier schon sein Gesicht verliert, verpasst du ihm dann bitte den Kussmund deiner Holobraut?“

Das ist zuviel für Shamal! Mit einem letzten Aufeinanderschlagen seiner Kiefer richtet er sich zu seiner vollen Größe von imposanten 1,20 Meter auf und Gileahn ahnt schon was jetzt kommt.

„Ihr wagt es!“ legt Shamal mit einer tiefen Baritonstimme los. „Ihr kurzärmligen, schleimspurziehenden, nichtsnutzigen, Offiziersanwärter-Versager.“

Oh, das ist neu, denkt Gileahn erstaunt. Shamals Sprachrepertoire scheint einen Kreativschub bekommen zu haben.

„Ihr hirnverknoteten, kuhäugigen, maulzerrissenen Ausgeburten einer Schlangenmutter!“

Jep, definitiv eine neue Stufe der Vulgärakkrobatik, ist sich Gileahn nun sicher. Das Gelächter in der Bar wird nun von anfeuerndem Klatschen begleitet, das Shamal nur noch mehr anstachelt.

„Ja, weiter so, zeig es uns Shamal!“  schallt es aus den Reihen der Beschimpften und Shamal lässt sich nicht zweimal bitten.

„Ihr hirnstammamputierten, synapsenimplotierten, hypokampusgeschrumpften, amygdalaentkernten Nachgeburten von affengeilen Bonobokopulierern.“

 Stop, nein, das ging jetzt zu weit, erkennt Gileahn nicht nur am eher peinlich berührten Lachen, sondern auch daran, dass Shamals Bewegungen immer fahriger werden. Was geht denn da mit ihm durch!

„Hey, schaut mal, bei Shamal raucht es aus den Ohren. Seine KI zieht sich wohl gerade einen Joint rein!“  kommt es rechts von Gileahn. Und tatsächlich kräuseln sich feine Rauchfäden aus Shamals Gehörgängen und jetzt zieht Kilian die Reißleine.

„Bar-KI 015A, Reset Bedienungsroboter Modell Shamal 3.1. Authorisation Gileahn. Sprachverifikation!“

Shamals unkoordinierte Bewegungen ersterben ebenso plötzlich, wie das heisere Gelächter in der Bar.

„Ach Gileahn, sei kein Spielverderber. Der hätte locker noch zwei Runden durchgehalten.“  Raunt es vorwurfsvoll aus der Menge.

„Lasst mal gut sein Leute“, seufzt Gileahn. „Ihr müsst ihn ja schließlich nicht wieder in Gang bringen, wenn er vollends durchbrennt. Außerdem wird es langsam Zeit für euch.“

Ein Blick auf sein COM-lay zeigt ihm, dass die Schicht 2 zu Ende geht und auf der Aramantine die nächste Schicht gerade geweckt wird.

Gileahn kennt wie jeder hier die Schiffsroutine in und auswendig, so ist das feine Zirpen in den Kommunikations Overlays, kurz COM-lays, keine Überraschung mehr und der Schichtwechsel, der sich ankündigt, zieht in eintrainierten Abläufen die letzten Gäste aus der Bar. Bald wird sie sich mit Neuen füllen, die ihr Tagwerk nach 10 Stunden abgestumpften Arbeitens, abgekämpft beenden und hier vor den Ruhestunden dem ewigen Trott ein wenig entkommen wollen.

 Gileahns Blicke folgen jenen, die das entspannte Lächeln, über das eben abgelaufene Schauspiel noch immer in ihren Mundwinkeln tragen auch wenn er weiß, das dies nur von kurzer Dauer sein wird. Die Arbeit hier auf der Aramantine ist wahrlich kein Zuckerschlecken, was diese Momente der groben Ausgelassenheit umso wertvoller macht. Er schaut sich um, eine 1,20 Meter halb durchgeschmorte Bedienungseinheit neben sich, ein unerlaubt gehakter Holo-Therapeut in seiner Hand und beginnende 3 Stunden Reparaturen an „Shamal“ vor sich, sowie das Unterfangen Holo-Semira vor seinen Vorgesetzten zu verstecken.

Semira zieht ein letztes Mal vor seinem geistigen Auge lasziv eine Augenbraue hoch und fragt ihn: „Na, mein Lieber. Hast du es dir so vorgestellt? “ 

Wenn er ehrlich zu sich selbst ist, dann kann er diese Frage nur schwer mit einem Ja beantworten. Als er damals sich freiwillig zum Dienst auf der Aramantine gemeldet hatte, waren Wunsch und Träumerei zu einer Vision einer besseren Zukunft verschmolzen, die ihm als Motivation reichte sein eintöniges Dahinleben ohne Höhen und Tiefen einfach über Bord zu werfen. Für ihn war dieser Schritt nur logisch, für die, die er zurückließ bestenfalls unverständlich oder als verrückt beschimpft.

Aber was genau hatte er damals schon zurückgelassen, was nicht nach Langeweile stank? Aus gutem Haus, wie es so schön hieß, für eine glänzende Zukunft prädestiniert, als Anwärter den Firmen Thron seines Vaters zu besteigen, so vorhersagbar, so vorbestimmt, so jeglicher Freiheitsgrade beraubt. Dort, wo er sich immer eingeengt fühlte, sahen alle anderen nur glückliche Chancen, wo er seine Eigenständigkeit abgewürgt empfand, sie nur offene Türen zu Wohlstand und Ansehen. Das Letzte, was Gileahn wollte und das Erste, woran seine Eltern dachten. Sein Widerstand dagegen wuchs gleichermaßen wie die Überredungsversuche sich doch endlich einzufügen, anzupassen. Familienkonformität und Verantwortungsbewußtsein nannten sie es dann, ein Kerker für Kreativität und Entfaltung, nannte es Gileahn. Und so war Entfernung und Entfremdung von den Idealen seiner Erzeuger und dessen speichelleckendes Ja-sager Gefolge der Keil, der Gileahn immer mehr von diesen spaltete und jenem Abenteuer, dass er auf der Aramantine erhoffte in die Arme trieb.

Er hebt den Kopf und blickt in Shamals tot starrende, künstliche Augen, die gerade eben noch zornfunkelnd Leben geheuchelt hatten und hat plötzlich das Gefühl als wollten sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, etwas aussprechen, was ihm nur noch nicht zu Bewusstsein gekommen ist aber schon länger als verschüttete Wahrheit ans Tageslicht drängen will.

„Vom Regen in die Traufe, was Gileahn?  Hast dein langweiliges Leben in Wohlstand gegen noch langweiligere Routinen getauscht. Und dann machst du mir Vorwürfe, dass ich meinen Whiskey pantsche?“

Verdrossen blickt Gileahn auf den Roboter und den Holo-Simulator.

„Ihr seid nur Illusion in Realität gewickelt“, murmelt Gileahn, “und ihr seid alle nur Fallen. Und bei dem Ganzen bin ich auch noch der Fallensteller. Was für eine Ironie des Schicksals!“

„Ach, komm schon Gileahn“, schmiegt sich Semiras aufmüpfiges Necken an seinen Weltschmerz.

„Es war deine Entscheidung.“

„Ja und ich frage mich, ob sie die Richtige war“, zieht es Gileahn durch den Kopf.

„Merkwürdig“ entgegnet ihm Semiras Stimme und die Augen Shamals ergänzen ihre Verwunderung mit einem statischen Blinzeln.

“Du erkennst tatsächlich nicht, dass es immer noch deine Entscheidung ist!“ Und Shamal-Semira schweigen anklagend.

Gileahn weiß natürlich, worauf er sich damals eingelassen hatte und auch, dass er wohl doch nicht so ganz seiner Vergangenheit entsagen hatte können, als er seine ID-Signatur unter den Verpflichtungsvertrag der Armantine setzte. Damals hatte er sich nichts dabei gedacht, aber heute scheint es so, als würde es ihn über die Jahrzehnte des Hibernating-Schlafs hinweg angrinsen und mit einem „wusste ich’s doch“ nach wie vor ein dumpfes Schuldgefühl am Leben erhalten. Den Vorwurf kann er nicht wegdiskutieren, sich einerseits seiner Familienfesseln entledigt haben zu wollen, dabei aber noch ein letztes Mal seine Stellung ausgenutz und sich einen Offiziersrang erschlichen zu haben. Dieser ermöglichte es ihm in der Führungsriege von Generation 4, der Landungsgeneration, direkt aus dem Kälteschlaf geweckt, in der Brückenbesatzung bei der Annäherung an den Zielplaneten eine erdgebundene Zukunft planen zu können. Ein kleines Opfer, wie er es damals nannte, für das Aufgeben seiner ganzen Firmenanteile, um die sich nun seine geifernde Verwandtschaft prügelte, zugunsten einer, na ja, sagen wir mal kleinen Vorteilnahme, eben nicht in den 3 Vorgenerationen an Bord ein Leben lang Dienst schieben zu müssen, um die Systeme zu erhalten, immer im Bewusstsein vor dem Erreichen des Zieles tot dem Energiegewinnungskreislauf der Aramantine zugeführt zu werden. 

Die Lotterie, welche die Zuteilung zu den 4 Brückengenerationen festlegte, damals auszutricksen war ihm ebenso wenig schwer wie moralisch verwerflich gefallen. So war er dann der Hibernating-Kapsel 725/ Generation 4 zugewiesen worden, seinen umfangreichen Programmierkenntnissen und Hacker Erfahrungen sei Dank - erlernt in todlangweiligen Elite College Tagen.

 Beim Einleiten des Kälteschlafs neckte ihn aber ein kleiner Gedanke an ein potenziell völlig unbedeutendes Prioritätenproblem und ließ ihn fast nicht wie vorgesehen hybernieren, da sich etwas in ihm wehrte. Aber was sollte schon sein, er war der Generation 4 zugeordnet, in einer Generation 4 Hyberkapsel, mit einer Klasse 1 Priorisierung zur Erweckung exakt ein Jahr vor geplanter Landung, was sollte es denn da schon für einen Einfluß haben, wenn der Zeitstempel im Erweckungs-Code auf eine Generation 3 Zeitskala geeicht war?  Ein typisches Kausalitäts Problem, dass jede Fehlerkorrektur-Routine einer Überwachungs KI sofort mit einer Zeitskalen Anpassung überschreiben würde. Sein letzter Gedanke war, bevor er Medikamenten induziert ins Hyberschlaf Traumreich gedrückt wurde war: denkt die KI auch wie ich?

Sie dachte nicht wie er und das lag an einer weiteren kleinen Optimierungsmanipulation, derer sich Gileahn bedient hatte, seinen Rang als Offizier betreffend.  Sein Problem war, dass er schlicht und ergreifend nicht qualifiziert genug war im Führungszirkel eines Generationen-Dimensionsgleiters Dienst zu tun. Die spezifischen Fachkenntnisse fehlten ihm ebenso, wie eine entsprechende Führungserfahrung. Klar, Bescheinigungen konnten gefälscht, Führungszeugnisses erkauft werden, aber was nützte ihm all das, wenn er sich dann in dieser Position beweisen würde müssen. Ein unkalkulierbares Risiko beschloss Gileahn damals und so wendete er einen weiteren kleinen aber umso effektiveren Trick an.

Er fügte der Anforderungsliste im Beschaffungsprozess der Human Resources Abteilung eine zusätzliche Offiziersposition hinzu, die so niemals vorgesehen war. Ein Moral-Offizier erster Klasse zur Stärkung sozial interagierender Führungsfunktionen. Das war wichtig genug, um wahrgenommen zu werden aber weit weg von allen operativen Tätigkeiten technischer Natur, sodass sich Gileahn mit seinen Fähigkeiten jederzeit in dieser Position durchschwindeln konnte. Damit er sich nicht mit irgendwelchen Autoritäten niederen Grades herumschlagen musste, ordnete er diese Funktion dem oberen Führungszirkel der Aramantine zu und Gileahn konnte sich dadurch sicher sein, das eine Jahr bis zur Landung ohne weiteres durchstehen zu können.

Und genau an diesem Punkt holte ihn dann das Prioritätenproblem ein.

Um einen Generationen Dimensions-Gleiter überhaupt in seinen Kernfunktionen steuern zu können, ist den Entscheidungs-Algorithmen quantengestützter künstlicher Intelligenzen schon vor langer Zeit das binäre Rechnen abgewöhnt worden. In linearen Systemen, wo Ursache und Wirkung proportional zueinander sind, reichen binäre Rechenoperationen hinreichend aus, um Vorhersagen treffen zu können. In nichtlinearen Systemen schaukeln sich hingegen kleinste Änderungen in sonst einfachen Gleichungen schnell zu nur mehr chaostheoretisch erfassbaren Zuständen hoch. Quanten-KIs verschieben durch ihr Vermögen nicht nur in 0 und 1 rechnen, sondern auch in Überlagerungszuständen, quasi unendlich viele Zwischenbereiche einbeziehen zu können, immer mehr die Grenzbereiche des Vorhersagbaren hin zu einem fast schon intuitiv zu nennenden Erahnen von höchstwahrscheinlich auftretenden Wirkungen. Diese fast schon an Magie grenzende Treffsicherheit, wirkungsspezifisch korrekte Entscheidungen fällen zu können, ist erst durch diese enorme Rechenleistung ermöglicht worden, die moderne Quanten KIs zu den am besten geeigneten Steuerungskompetenzen macht und sie damit imperativ in der Kommandostruktur von Dimensions-Gleitern eingebettet sind.

Und damit „dachte“ eine solche KI auch weitaus umfangreicher über Gileahns kleines Prioritätenproblem nach und kam zu dem Schluss, dass es zur Stärkung sozial interagierender Führungsfunktionen in der 3. und damit vorletzten Generation, eines Moraloffiziers erster Klasse weitaus mehr bedarf, als in der 4., der Landungsgeneration, deren Motivation alleine durch das bereits visuelle, wenn auch durch optische Teleskope verstärkte, vor Augen haben des heiß ersehnten Zielplaneten nicht mehr weiter erhöht werden muss.  In der dritten Generation allerdings, der es bewusst ist die letzte Generation zu sein, die auf der Aramantine unabdingbar sterben wird, hat dringenden Bedarf nach einem zusätzlichen Moral-Offizier. Eine durchaus logisch nachvollziehbare Entscheidung einer emotionslosen KI, für Gileahn aber ein Emotions-Desaster.

Der Hybernating Kapsel 725/4 mit der Klasse 1 Erweckungspriorisierung entsprechend der 4. Generation der Brückenmannschaft auf der Aramantine, entstieg exakt 94 Jahre vor errechneter Zielankunft ein Moral-Offizier erster Klasse namens Gileahn, der sofort das ungute Bauchgrummeln, das ihn beim Eintauchen in den Hyber-Schlaf befallen hatte, wieder spürte. Das rationale Erkennen seiner misslichen Lage dauerte 5 Sekunden, Blick auf sein Com-Lay, das emotionale Ausrasten 3 Tage, 2 davon auf der Couch des Holo-Therapeuten, das Fluchen und Schimpfen gepaart mit einem gelinde gesagt vollkommen inakzeptablen Verhalten eines Moral-Offiziers erster Klasse dauerte einen Monat, der Tritt seines Führungsoffiziers in seinen Hintern ob dieses Verhaltens eine Sekunde, das Akzeptieren allerdings, das die  Aramantine und sein Dienst auf ihr den Rest seines Lebens ausfüllen würde, dauert noch an.

Gileahn schüttelt energisch den Kopf. Seine Dämonen quälen ihn immer noch, so als nährten sie sich an seiner Wut, an seinem Zorn, aber mehr noch, und auch das ahnt er, an der Erkenntnis, die trübe in sein Bewusstsein tröpfelt, dass er das alles hier nur sich selbst und seinem Hochmut zuzuschreiben hat, seiner Hybris folgt das Sühnen auf der Aramantine, seinem höchstpersönlichen Fegefeuer oder ist es schon die Hölle?

Mit einem Seufzen wendet er sich wieder Shamal zu, blickt ihm dabei tief in dessen Glupschaugen und legt ihm dann seine Hand auf die breiten Schultern aus karbonknochigem Synthokautschuk.

„Na Shamal, dann wollen wir doch mal sehen, wie dir Semiras Kussmund steht!“

Wäre noch ein Gast in der Bar gewesen, ein stiller Beobachter, er hätte das feine Zucken in Gileahns Mundwinkeln bemerkt, den Anflug eines Lächelns, das sein zorniges Selbstmitleid aus seinen Augen und den dunklen Schatten auf seiner Seele verdrängt. Er hätte wohl zufrieden mit seinem Kopf genickt, ganz leicht nur, ein wenig ängstlich vielleicht noch, um den fragilen, heilsamen Moment wissend, der sonst so leicht zu zerstören ist. Er hätte wahrscheinlich selbst auch ein wenig gelächelt und zu sich selbst gesagt: „Na endlich, hast dich schlußendlich doch noch auf den Weg gemacht, Gileahn.“

Und wäre es ein ganz besonders aufmerksamer Beobachter gewesen, einer der noch sorgfältiger hingesehen hätte, vielleicht ein sehr weiser, äonengereifter, nicht durch Jahre oder Jahrhunderte, nein Jahrtausende erfahrener Beobachter, er hätte wohl hinter dieses kaum wahrnehmbare Lächeln blicken können und noch etwas anderes gesehen. Er hätte die Ahnung eines aurahaften, mystisch verschwommenen Umrisses gesehen, ein Dejavue von einer dick-eichigen, moorschwarzen Tür und einem schmiedeeisernen Schloss, in dem nun ein Schlüssel steckt. Und sein Lächeln wäre sofort erstorben und einem erstickt gehauchtem „Nein, das kann nicht sein“ gewichen.

Aber es war kein Beobachter da.

 

to be continued......


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